Louis Aragon, 1975

Stein auf Stein

Pierre sur pierre (Louis Aragon, 1975)

À propos

Dieser Text, geschrieben von Louis Aragon im Januar oder Februar 1975 über die lithographischen Arbeiten von Alain Le Yaounc, erschien (zunächst in Französisch und dann auch in Englisch) im Vorwort des Kataloges der Lithographien “Le Yaouanc”, im gleichen Jahr herausgegeben von la Pierre d’Angle. Eine Luxusversion dieses Kataloges wurde in 150 Exemplaren von Vélin d’Arches gedruckt, numeriert von 1 bis 150 und handsigniert von Louis Aragon und Alain Le Yaouanc. Diesem Katalog liegt eine farbige, signierte und numerierte Originallithographie bei. Er wurde noch einmal aufgelegt im Album der Lithographien “Stone upon Stone”, herausgegeben im Jahre 1977 in New York von Cavaliero Fine Arts. « Stein auf Stein » wurde ins Englische von Simon Watson Taylor übersetzt, und ins Deutsche von Dr. Lydia Babilas.

Von allem etwas braucht’s, um eine Welt zu bauen… diese Art von Aphorismus wird nirgendwo in Frage gestellt. Außer von jenen Propheten, die man Maler nennt. Die ersten zeichneten auf die Wände ihrer Höhlen Auerochsen und Jagdszenen. Das war ihre Auswahl. Mochten sich auch im Lauf der Jahrhunderte jene Gestalt gewordenen Träume, die man Malereien nennt, gewandelt haben, sie waren immer von einer Auswahl beherrscht, deren tiefes Geheimnis sich den Träumern nicht entreißen läßt. Diese Auswahl und nicht das Sammelsurium des von allem etwas baut ihre Welt. Die Welt der Brüder Le Nain, die Welt von Vermeer, Watteau, Seurat, Nicolas de Staël. Um ein paar zufällig herausgegriffene Beispiele zu nennen. Es gibt nicht nur die Palette der Farben, sondern auch die der Gegenstände. Jeder Maler ist ein Hieroglyphenschreiber, und es gibt zwar Champollions, die die Zeichen entziffern, doch können sie nicht die Sprache der Pharaonen sprechen. Vergeblich versucht man, die Persönlichkeit der Auswahl zu erklären, schon glaubt man, daß es einem gelingt, und da taucht ein Picasso auf. So wird die Kritik permanent Lügen gestraft in einem Bereich, der den Kommentaren, dem Geschwätz der Kritik verboten ist. Und all dies ist, von Giotto bis Le Yaouanc, um die Ideen, die Grenzen abzustecken, der Schlüßel zu einer enormen Träumerei, die die Bilderstürmer zur Verzweiflung bringen kann.

In eben diesen Träumen gibt es mehr Welten als Sterne am Himmel. Daß man in einer schönen tiefdunklen Nacht auf dem Mond landen konnte, erlaubt keineswegs, sich vorzustellen, was dem Menschen an Erkenntnis noch bevorsteht. Und es ist gar nicht sicher, daß die menschliche Welt, die wir vielleicht erreichen können, zu ihrer eigenen Vollendung von allem etwas braucht. Ich neige geradezu zu der Annahme, daß sich der Geist nicht durch das erweitert, was er anhäuft, sondern durch das, was er übergeht.

Nun, all das ergibt sich für mich aus dem Versuch einer sehr bizarren Lektüre. Ich habe die Photographien von dreiundsechzig Lithos von Alain Le Yaouanc vor mir. Als Gedächtnißtütze. Diese Arbeiten erstrecken sich über sechs Jahre, von 1969 bis 1974 (einschließlich… eine höchst prätentiöse Präzisierung).

Die Lithographie ist nicht ein bloßes Verfahren. Auf Stein schreiben, oder dies jedenfalls an manchen Tagen jeder anderen Weise, zu den Augen zu sprechen, vorziehen, ist, als gäbe man sich plötzlich absichtlich einer bestimmten Art des Liebemachens hin, um besser überzeugen zu können. Wen? Das ist eine andere Sache: vielleicht ganz einfach sich selbst. Da ja der Mensch nur seine eigene lust ermißt. Sich mißt an seiner eigenen… Es handelt sich hier um einen Praktiker, dem es nicht genügt, im alten Sinne zu malen, mit Öl oder Wasser, und dabei die Farbe auf der Palette zu panschen. So hat er unter anderem, oder ich möchte lieber im Plural sagen, unter anderen Beispielen, die neue Kunst der Collage sehr weit vorangebracht, bis zur Vervielfältigung eines ausgewählten Elements, deßen er sich bedient wie der Architect des Steins. Er hat die Collage, das heißt die Verwendung einer Figur (wie man in der Grammatik sagt), bis an die Grenzen der Skulptur getrieben. Er lebt in einem Universum ausgeschnittener Papiere, die ein bloßer Windstoß zerstören könnte, würde sie nicht ein Wald von Nadeln zusammenhalten, wie es die Syntax mit den Wörtern tut. Auf einmal sieht man darin, bar jeder Proportion, Riesenbilder erblühen, so wie plötzlich die Agave aufplatzt; sie scheinen unsichtbare Landschaften zu kopieren, indem sie im Maßtab eines Polyphems, dem niemand Zeit hatte, das Auge auszustechen, ein anderes Universum errichten, das unbekannten Gesetzen unterworfen ist.

Auf Stein schreiben… damit der Stein seinerseits spricht, das heißt, damit er wie ein Echo wiederholt… auf Stein schreiben, ich sehe darin unwillkürlich, wenn ich darüber nachdenke, das Verhalten von Landstreichern, die anderen Kriminellen grenzende Ratschläge und vertrauliche Hinweise hinterlaßen. Nun, wir wollen auch nicht übertreiben : manche Lithographien haben die Unschuld von Visitenkartenfabrikanten, aber nicht von diesen spreche ich. Die Botschaften, die ich im Auge habe, sind von einer ganz anderen Art. Trotzdem steht der heutige Maler dem Gesetzlosen, der eine Mauer mit seinem eigenen Erlebnis markiert, näher als den mir bekannten Postkartenmachern.

Wenn man also unbedingt das Abenteuer verstehen will, das ebenso auf dem Stein wie auf der Leinwand Gestalt annimmt, aber hier soll es insbesondere um das Praktizieren dieser Kunst auf Stein gehen, einer Kunst, die so seltsam wie die eines Tätowierers ist, dann muß man diese geheimnisvollen Inschriften, wenn auch nicht in ihrer ganz strengen Abfolge… denn die könnte der Maler ebensowenig wie ich rekonstruieren, da er ja diese Materialisierungen des Traumes (1) nicht von Tag zu Tag, es wäre richtiger zu sagen : von Nacht zu Nacht, datiert hat… wenn man, sagte ich, sie verstehen will, muß man versuchen, die zeitliche Abfolge dieser Bilder zu rekonstruieren, jedenfalls im Maße des Möglichen (des Unmöglichen), das heißt die Annäherungszufälle im Laufe einer willkürlich gewählten Zeiteinheit, der eines Jahres, von einem Jahr zum anderen, zum Beispiel. Um nicht zu anspruchsvoll zu sein. Ich erinnere daran, daß es sich im Moment um die Lithographien handelt, die sich in einem Zeitraum von sechs jahren (1969 – 1974) herausgeschält haben, die nun jahrweise gruppiert werden, und daß man eigentlich, um sie besser zu verstehen, den vom Papier bis zur Leinwand reichenden variablen Kontext aller Traumarten jener geheimnisvollen Gestalt lesen müßte, die man vereinfachend Maler, unseren Maler nennt, das heißt denjenigen, den wir ins Auge fassen, oder vielmehr mustern, oder, so müßte man eigentlich sagen, entkleiden, wenn ich nicht die Zweideutigkeit fürchtete… aber sind wir denn nicht letzten Endes vor ihm zu seinen Voyeuren geworden ? Und übrigens, wer verdirbt wen? Wer ist der Beseßene, der Maler oder sein Zuschauer? Es wird da zwischen Ihnen und ihm ein eigenartiges Stück gespielt, und dieses Wort läßt sich ebenso im Sinne des Theaters wie in dem der Spielcasinos verstehen, Rouge oder Noir, Pair und Impair, Manque oder Passe… Nun, ich verliere mich, oder, um ehrlicher zu sein, ich führe Sie in die Irre, ich ertränke Sie, wenn Ihnen das lieber ist.

Ich sagte in Wirklichkeit etwas ganz Einfaches. Wenn man die Lithos von Le Yaouanc nach Jahren ordnet, gelangt man vielleicht… dieses Verb verwirrt mich plötzlich, als wenn es sich um einen Zug handelte, und Züge entgleisen manchmal, genauso wie dieses Sprechen, das ich schreibe… gelangt man (das heißt jetzt wenigstens einigermaßen pünktlich), gelangt man zu einem gewißen Zustand der Indiscretion unsererseits, der Provokation seinerseits. Täuschen Sie sich nicht: wenn man die Jahre vergleicht oder auch nur den Verlauf eines Jahres betrachtet, scheint es mir, daß der Maler nicht wilkürlich in seinem Verfahren variiert oder, wenn es Ihnen lieber ist, zu Variationen seiner Manier schreitet, die ganz undenkbar bloße Zufälle sein können, diese Variationen. Zum Beispiel…

Nehmen wir zum Beispiel, auch aus Ordnungssinn, die sieben Lithographien, die hier das Jahr 1969 bilden. Um mit dem Anfang anzufangen. Man stellt bei ihnen, gleichgültig, welches die Reihenfolge ist, die uns hier in diesem Zeit-Raum nicht mitgeteilt wird, ein gewißes Spiel schon in der Darbietung des Sujets fest, das übrigens so deutlich ist, daß ich mir erlaube, die Darbietung (die Variation in der Darbietung) als eine dominierende Auseinandersetzung mit dem Sujet zu betrachten. Aber ich muß deutlicher erklären, was ich meine.

Nicht nur hier, sondern zum Beispiel in seinen Collagen beobachten wir bei Le Yaouanc, daß die Bildumrahmung, die ausgesparten Ränder, die Situierung der gemalten oder geschnittenen oder aufgeklebten Sache eine vorherrschende Bedeutung gegenüber dem dargebotenen Motiv bekommen, dem nicht der ganze zur Verfügung stehende Raum der Leinwand, der Collage, des Stiches gegeben wird. Der Maler wird zum Einrahmer, das heißt, er situiert das Motiv (das gesagte) in ein Rechteck oder ein Oval, zum Beispiel, das dem Papier, der Leinwand, dem, was als das wesentliche des Werkes gelten könnte, Ränder, manchmal mehrere Ränder auferlegt, er versieht das Gleichgewicht der in die Mitte oder auch nicht in die Mitte des Bildes situierten Kompositionen oder Zeichnung gleichsam mit schwebenden Rändern, die getönt sind, als wollte er das – ich wage nicht zu sagen – Stilleben mit einer ganzen Menge von Rahmen umgeben, man müßte hier besser vom Gleichgewicht der eingerahmten Formen sprechen. All das tendiert zur Bildung eines Stils. Und warum sollte ich nicht zum Beispiel die Darbietung des Themas in einem Oval, dem man hier mehrmals begegnet, mit dem Oval vergleichen, mit dem um 1910, 1911 herum Braque oder Picasso gewiße Stilleben des Kubismus begrenzten? Ich stelle mir nicht vor, daß dies Sache des Zufalls ist. Zumal dieser eben erwähnte Stil schon bei Picasso oder Braque den Zweck hatte, dem Werk eine Bildumrahmung zu geben, die uns ein Jahrhundert zurückführt, oder jedenfalls zur Darbietung der ersten Photographien, bei Nadar, zum Beispiel.

Bei Alain Le Yaouanc hat das Spiel die Tendenz, das Motiv einzusperren und es zugleich den Rahmen sprengen zu laßen, damit es endlich den ganzen Raum erhält, den der Maler bisher den Variationen der Ränder vorbehalten hatte. Aber wenn auch etwas davon über das Jahr 1969 hinaus in der Darbietung der Lithos während der nächsten fünf Jahre fortlebt, so bekommt doch das Thema immer größere Bedeutung, breitet sich das Sujet immer mehr über den ganzen bereitstehenden Raum aus. Etwa so, als hätte, wenn die Zeichnungen gegenüber dem sie umgebenden Raum die Oberhand gewinnt, der Maler mehr zu sagen. Als ob sich vor uns allmählich (nicht mehr Bilder, sondern) eine Welt bildete. Eine Welt, die nicht unsere ist, auch wenn hier und da aus diesen fliegenden Halbinseln eine menschliche Form auftaucht oder, den Schnabel nach vorn gestreckt, Vögel vorbeistürzen. Provinzen, für die nahe Zeit erfunden, in der jedenfalls unsere Erde unbewohnbar geworden sein wird. Aber wohlverstanden, mit ihren Autobahnen ohne Autos, mit ihrer speziellen Hölle. Am Rand des Himmals, versteht sich. Kleine Katastrophenparks mit dem gewaltsamen Licht der Nacht, Wasserfälle anstelle von Kreuzungen, ein Universum ungeordneter Kugellager, ein Straßentransport ohne anderen Zweck als den, das durcheinander der Gattungen noch zu vergrössern, einen Verkehr zu intensivieren, der nirgendwo anders hinführen kann als zurück auf seine eigenen Spuren, eine Drehkrankheit japanischer Mäuse, das Auspacken oder das bloße Herausfallen der sorgfâltig vorbereiteten Elemente aus einer Schachtel, die sich mangels eines zuverlässigen Schloßes, auf Grund eines diesem auswechselbaren Universum gelieferten Geheim systems geöffnet hat… das Puzzlespiel, deßen sämtliche möglichen Kombinationen zwischen seinen Elementen immer dann scheitern, wenn man schon glaubte, das Land zu erraten, das sich zu bilden schien, weil da ein Loch ist, in das kein Stück paßt, ein bizarrer Riss, mit einem Wort die Schach-Figur, die einen zwingt, alles zu zerstören, um wieder neu anzufangen, die Falle des ungedeckten Schecks mit seinen zerrissenen Konturen, seinem unverzeihlichen Charakter: mit einem Wort, die Lache, die Narziss zur Verzweiflung bringt, da er sich in ihr niemals wird sehen können, der Riss, der ihn verneint.

Mozart enfant, 1970

Mozart enfant, 1970

Von den zehn abgebildeten Werken aus dem Jahr 1970, und es ist unmöglich, irgendeinem von ihnen einen Vorrang einzuräumen, hebe ich in diesem mechanischen Balett gezwungenermassen das Auftauchen des weißen Rhinozeros auf dem unteren Teil einer Konstruktion hervor, die relativ einfach ist, wenn man nicht beim Gitterwerk verweilt, das wie ein Fenster oder wie ein Gefângnis wirkt zwischen einem Pfeil ziemlich weit unten links und einer schwarzen Form mit grauer Maske in Gesellschaft eines zerbrochenen Kubus, die nach oben hin entschwindet.

Ich wette, daß dieses ausgezeichnet erkennbare Tier nicht die Figuration deßen ist, was ich lese, sondern ein komplexer Riss, vor der es vorbeizulaufen scheint wie ein liebes Hündchen, wobei das Nicht-Gemalte eine der von den Malern dieses Jahrhunderts erfundenen Farben ist, die das umherwandernde Auge mit seinem unerträglichen Anspruch zu « verstehen » in die Irre führen soll. Und letzten Endes ein Buchstabe wie die anderen (ein großes E ode rein großes H) in der Landschaft. Der Buchstabe Rhinozerus. Es wäre kindisch, wollte man so auf jeder Lithographie ein dominierendes Zeichen notieren, das faktisch nie mehr oder weniger bewußt gebildete Gleichgewichtsstruktur durcheinanderbringt, und zwar, stelle ich mir vor, absichtlich, obwohl… denn zwischen dem Willen und dem Bewußtsein gibt es einen recht verwirrenden Spielraum… da ist zum beispiel, von einem Litho zum anderen, die vielfalt gestreifter Kuben, die zumindest einmal die Rolle des Akkordeons in diesem Orchester spielen, von dem sie sich lösen oder mit dem sie sich wieder vereinen, während anderswo, hinter dem Aufbau einer Welt, ich meine hinter der Baustelle ich weiß nicht welcher Universität, mitten in der Nacht Mondkugeln auftauchen, ihre Helligkeit, und ich wette, die großen Parfumfabrikanten der Haute Couture bringen es nicht fertig, sie für ihre Flacons göttlicher Düfte zum Muster zu nehmen.

*

An dem Punkt, den ich jetzt erreicht habe, lernte ich in Wirklichkeit Alain Le Yaouanc kennen. Dies geschah zu einer Zeit, da mir der Tod das, was mein Leben war, und zugleich die Fähigkeit zu schreiben genommen hatte. Ich vermute, daß niemand im Lichte dieser schrecklichen Gegebenheit den ersten Text lesen konnte oder zu lesen verstand, den ich in Les Lettres françaises über die Kunst von Le Yaouanc schrieb, oder, wie ich sagte: über ein Universum namens Le Yaouanc, merken Sie sich diesen Namen… es lohnt sich…

Ich will hier nicht das entziffern, was damals, 1971, als es mir gelang, diese Lähmung des Unglücks zu überwinden, von meiner persönlichen Tragödie in diese fünf oder sechs Seiten eingegangen sein mag, mit denen eine Freundschaft beginnt. Ich betrachte heute die Photos der elf Lithographien jenes Jahres, die mir – über eine Außtellung in der Rue de Téhéran, bei Maeght, hinaus – das Unerklärbare deßen zusammenfassen scheinen, was damals für mich begann: diese Reise ins Unbekannte, deren seltsame Etappen ich aufeinanderfolgen sah. Vielleicht wird man diesen letzten Worten entnehmen können, was angesichts dieses Schauspiels einer beständigen Geburt oder, wenn sie so wollen, Wieder-Geburt für mich über die Kunstkritik hinausgeht. Man nehme dieses Geständnis, wie man will. Ich beendete diesen “Artikel” (wie man bizarrerweise diese Art von Geschriebenen nennt) mit einem Zitat aus dem Text, der in der Zeitschrift Derrière le Miroir erschienen war und in dem der Maler besser, als ich es sagen kann, das sagte, was ich seitdem unablässig wiederhole, wenn ich von ihm spreche:

Vielleicht werden wir die Erforscher der Leere, eines Landes, in dem das Bild kein Mitleid kennt. Vielleicht sind wir dort schon: welch spekulativer Eigensinn lässt sich in den Gesichtswinkeln der künftigen Helden erraten, deren Kinn den Boden berührt und deren geübtes Ohr in der Ferne den wohltönenden Ruf des Schönen errät…

Minerve, 1972

Minerve, 1972

Dieses Geständnis hat vielleicht etwas Indezentes, aber was sonst habe ich seitdem getan als dies immer wieder zu sagen, wie ein Wächter auf der Zinne einer belagerten Stadt die Fortschritte des Morgenlichts in der Nacht ankündigt? Zum Beispiel im November 1972, anlässlich der Außtellung in der Galerie Odermatt, in der der Maler mit einigen masslosen Bildern dieses Forschungsjahr eingestand, in welchem er gleichsam die Welt der früheren Collagen überschritt und sich gleichzeitig an die “große Malerei” machte, im zweifach möglichen Sinn dieses Ausdrucks. Und diese doppelte Arbeit geben die elf Lithographien wieder, von denen ich sprach. Sie wird im Jahre 1972 fortgesetzt, mit zwölf Lithos, vielleicht den eigenartigsten in diesem Album, das sich nicht kommentieren lässt, obwohl ich es doch hier zu kommentieren scheine. Und dadurch fühle ich mich ein wenig dieser Katze in der Farbe der Leere ähnlich, die an einem vollkommen schwarzen Himmel (oder Hintergrund) mit der Pfote ein Motiv (oder eine Motette) zu berühren sucht, das Zielscheibe und Schnecke miteinander vermählt… an den Grenzen der Ordnung und der Unordnung. Suchen Sie hierzu die Abbildung, um mich zu verstehen.

Und in der Träumerei von 1973, die der Außtellung in Genf entspricht, nimmt Das Schreiben auf Stein einen alles beherrschenden Platz ein, so daß ich zuerst zu Pfingsten darüber sprechen mußte und dann zum Jahresende mit dieser in winzigen Lettern geschriebenen Seite Mit der Lupe zu lesen… Inmitten einer Art Retrospektive des Steins gibt es jedoch in jenem Jahr nur acht lithographische Bilder. Aber was für welche! So das Bild jenes Ortes vor der Morgenröte, an dem ein Katzentier oder ein Dinosaurier, ich weiß nicht, was es ist, mit der ganzen vergangenen Tiergeschichte den Dekor der unmöglichen Zukunft zu dementieren scheint, auf die hin es die Frage einer Pfote außtreckt… oder das Bild eines Tanzes von Vogelgestalten von einem Kubus zum anderen, während Kuben über ihnen aus dem freien Himmel herunterstürzen (denn Himmel nennen wir die Leere über uns).

Ich vermute, daß ich 1974 – es gibt keinen Hinweis darauf – , in dem Jahr, als fünfzehn Lithographien, mehr als je zuvor, nicht wahr? diese Sammlung beenden, für die ich so tue, als schreibe ich ein Vorwort… nach sechs Monaten Vernichtung, wissen Sie, und man verzeihe mir hier diese ganz persönliche Bemerkung…, ich vermute, daß ich den Text mit dem Titel MALEN ODER ABMALEN (Über einen schwarzen Diamanten) 1974 geschrieben habe…, aber nichts beweist es mir, es mag vorher gewesen sein, aber ich könnte bei diesem posthumen Geist, der sich meiner bemächtigt hat, auch sagen: vielleicht nachher… Wofür war das ein Vorwort? Wurde dies wirklich gedruckt? Zumal da es, um mich an die Bilder zu halten, die ich vor Augen habe (wie Tränensäcke unter den Augen beim Erwachen aus einer unmöglichen Liebe), zu ihrer Datierung nur diesen besonderen Akzent gibt, von den verschwenderischen Vogelschwärmen bis zum Katzentier, das jetzt wieder vorbeistreicht, bis zur antiken Statue, die gleichsam ein Loch am Ende des Akkordeons der Formen bildet, den Akzent eines Gegengiftes, das Schreiben als Gegengift gegen diese physische Nacht, aus der ich langsam auftauche…

So weit war ich auf dem Parcours des Malers, vor diesen unveröffentlichten-nicht zur Veröffentlichung geeigneten Seiten, die dieses Loch in meinem Gedächtnis nicht füllen, aber davon zeugen, daß auf dieser unbeweglichen Reise, auf der ich mich offenbar mehr als fünf Monate lang am Ende meines Lebens verirrt habe wie am Ende einer Mole in der Nacht, von der aus nichts weiterzugehen scheint als das Rauschen der Zeit, die Brandung eines namenlosen Meeres… zwischen den Steinen der Einsamkeit…als sich mir die Notwendigkeit aufdrängte zu erfahren, was es mit diesen handgeschriebenen Seiten eigentlich auf sich habe, ohne deren Kenntnis alles Vorangegangene für mich das an den Rändern einer unbekannten Stadt gestellte Rätsel des Ödipus bliebe, das ich letzten Endes für mich selber bin… Da befragte ich aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz (denn wo mochte Ende August mein Maler sein, sicherlich nicht dort, wo ich ihn suchte…) die Finsternis des Telefons von einem Ende bis zum anderen dieses Bereiches, aus dem ich langsam aus der Nacht des 28. oder 29. Januar 1974 auftauchte… Und tatsächlich ist Le Yaouanc da, um mir zu antworten und mir zu bestätigen, daß er jene Seiten, von denen ich ihm erzähle, nicht kennt, daß es jedoch undenkbar ist, daß ich sie ihm nicht gleich nach der Niederschrift zugeschickt hätte… Nein, er hat sie nicht gelesen, sie blieben dieses Manuskript von sechs großen Seiten vor mir, das ich offensichtlich ihm schon vor Monaten gegeben zu haben glaubte, weil es das enthält, was mir die Schlußfolgerung einer Träumerei zu sein schien, in der ich mich also weiterhin ganz allein mit dem Rätsel herumzuschlagen habe… einer Träumerei, die man tatsächlich unmöglich zu einer Schlußfolgerung bringen kann… wie ein Traum, an den man sich nur mühsam erinnert, und man war dabei, ihn zu erzählen, oder zumindest glaubte man es, und da merkt man plôtzlich, daß jeder erzählte Traum eine Lüge ist… es bleibt nur die gestellte Frage vor uns, ich erfand lediglich, ohne es zu wißen, auf diesem steinigen, steinigen, steinigen Weg, mit verletzten Füßen und dem schwarzen Licht zugewandten Augen…

O wer wird morgen mit lauter Stimme sagen, was zu schreien übrigt bleibt, wer wird, wenn ich endlich verstummt bin, an meiner Stelle das große Geheimnis dieses anbrechenden Universums enthüllen, das ich nur undeutlich in seinem Anfang sah?

Louis Aragon

(1) Ich kenne eigentlich nur einen Menschen, der bei der Chiffrierung des von ihm gedachten, Gezeichneten, Gravierten, was kommt’s drauf an? über die strenge Kalenderdatierung hinausgegangen ist, manchmal mit einem Präzisionsbemühen, das einen schwindelig macht: Picasso achtet auf einigen Zeichenblöcken ganz merkwürdig darauf, sicherlich für sich, aber auch für andere, für eine Erinnerung, die ihn überlebt, die Abfolge seiner Träume festzuhalten, ihre Variationen, als wollte er ihre Variationen mit dem Metronom meßen, musikalisch gesprochen.